Das Erste, was ich allen erzähle, die nach unserem letzten Trip in die Verdonschlucht fragen, ist was für eine großartige Kletter- und Reisepartnerin Janina ist. Das Zweite? Dass ich nie wieder anders unterwegs sein will als mit Zug und Fahrrad. Ach ja, und wir konnten sogar die Route klettern, wegen der wir hergekommen waren.

Janina und ich hatten vor etwa eineinhalb Jahren schon einmal El Topo versucht. Während einer unserer Kaderlehrgänge hatte sich Janina zwei Tage lang mit Amelie die unteren zwei Drittel der Route hochgekämpft, während Dörte und ich uns am oberen Teil versuchten hatten. Insgesamt kannten wir also fast alle Seillängen und hatten eine recht gute Vorstellung von den Herausforderungen, die uns in der Tour erwarten würden.

Diesmal wollten wir es allerdings ohne Auto angehen. Keine von uns hatte zuvor schonmal so eine Reise mit Fahrrad und Zug gemacht, und es gab im Vorfeld einige Unbekannte: Würden wir es hinbekommen unser gesamtes Gepäck – inklusive Portaledges – auf die Räder zu packen? Machte uns Klettern nicht eigentlich deutlich mehr Spass als Radfahren und würden wir am Ende unseres Urlaubs die im Sattel verlorene Zeit bereuen? Und wie naiv war es eigentlich, das Ganze mit einem alten Kinder-MTB zu versuchen, das Janina für 45 € auf Ebay-Kleinanzeigen gekauft hatte, wenn Bike-Packer bei ihrer Ausrüstung neben Style primär auf das Gewicht zu achten scheinen?

Dementsprechend überrascht war ich, als ich, nachdem wir einmal gestartet waren, mit jedem Tritt zunehmend enthusiastisch wurde. Ich freute mich so, dass wir ohne zu verkopfte Planung entschieden hatten, es einfach auszuprobieren. Meine Euphorie hielt selbst noch an, als wir während der ersten fünf Stunden völlig vom strömenden Regen durchnässt worden waren, regelmäßig Abzweigungen verpasst hatten und der Magen knurrte, weil wir am Vortag kein Frühstück organisiert hatten; wir waren fataler Weise davon ausgegangen, dass wir auf dem Land in Frankreich sicher alle 30 Minuten auf eine Bäckerei stoßen würden.

In meinem Kopf hatte ich mir die Lavendelfelder, die sich vor uns bis zum Horizont ausdehnten, zwar in leuchtendem Lila und in voller Blüte ausgemalt– nicht grau im Herbstregen. Aber trotz unseres schleichenden Tempos änderte sich die Umgebung um uns herum ständig: Ein Vogel, der in einer Dornenhecke landet, eine Eichel, die vor meinen Reifen fällt und schon im nächsten Moment unter ihm zerknackt, eine plötzliche Schwade von Feuchtigkeit, als wir eine Senke durchqueren. Felder, die sich in die Hügel einschmiegen, zerfallende Steinhütten umgeben von feuchtem Laubwald wichen endlosen Lavendelfeldern, die uns in Richtung Berge führten. Durch links und rechts steil aufragende Felswände am Schluchteingang hindurch folgten wir den kurvigen Serpentinen Kehre für Kehre weiter nach oben. Ich war diese Strecke schon oft mit dem Auto gefahren, doch nie zuvor war ich so beeindruckt und voller Vorfreude gewesen.

Vor Ort gaben uns die Fahrräder ein Gefühl unbeschwerter Unabhängigkeit. Alles war vom Campingplatz aus mühelos mit dem Rad erreichbar. Wenn wir abends, allein im Licht unserer Stirnlampen in Dunkelheit und Stille zurück zum Zelt rollten fühlte es sich wie der perfekte Abschluss des Tages an.

Während wir an der Route arbeiteten, kamen uns ernsthafte Zweifel, ob unser Plan, sie frei zu klettern, vielleicht doch etwas zu optimistisch gewesen war. Alle, die uns in den unteren Seillängen in der prallen Sonne beobachtet hatten, mussten uns für verrückt gehalten haben, nur ein paar Tage später einen Durchstiegsversuch zu planen. Wir hingen mehr in unseren Gurten, als tatsächlich zu klettern: zwei Züge, dann wieder im Seil– unsere Haut tat einfach zu weh und das Stehen auf diesen winzigen Tritten war lächerlich unerträglich. Dennoch versuchten wir unser Bestes, um die entscheidenden Crux-Sequenzen zumindest theoretisch zu entschlüsseln. Für den Rest mussten wir darauf vertrauen, dass es, wenn es an der Zeit für unseren Rotpunkt-Versuch wäre irgendwie auch intuitiv gehen würde.

Zu unserem großen Frust verbrachten wir wegen schmerzenden Händen und Füssen, sowie durchwachsenem Wetter mehr Zeit mit Ruhetagen als mit Klettern. Die Sorge, dass wir kein Wetterfenster mehr bekommen würden, bevor unsere Zeit in der Schlucht zu Ende wäre, wuchs. Aber wir hatten Glück. An unseren letzten beiden Tagen hörte es auf zu regnen und der strahlend blaue Himmel kehrte zurück. Wir hatten vor dem Trip bereits im Kopf gehabt, die Route an zwei Tagen mit Übernachtung auf dem Portaledge zu klettern. In der Mittagshitze stellte sich dies nun tatsächlich als einzig für uns machbare Möglichkeit heraus, während wir uns über Mittag für einige Stunden vor der Sonne verstecken mussten, bis die Wand langsam in den Schatten kam.

Die erste Hälfte verlief viel reibungsloser als irgendwer erwartet hätte. Bis zur 7. Seillänge kletterten wir ohne größere Schwierigkeiten alles frei. Offenbar machte es doch einen Unterschied, ob man die scharfen Tropflöchern wirklich auch festhalten wollte. Doch dann, eine Seillänge unterhalb des Stands, an dem wir beim Abseilen unser Schlafzeug gelassen hatten, geriet unser Flow ins Stocken: Der überhängende Riss über uns sah an mehreren Stellen nass aus, vor allem um die Schlüsselstelle herum. Eigentlich hatte ich nur nachsehen wollen, ob es in diesem Zustand noch irgendwie kletterbar wäre, in der Hoffnung, dass es bis zum nächsten Morgen schon etwas weiter abgetrocknet sein könnte. Doch plötzlich fand ich mich mitten in der Crux wieder, am Kämpfen und mit dem Gefühl bei jedem Zug zu fallen und trotzdem irgendwie immer noch an der Wand, so leer wie schon lange nicht mehr.

Dann war ich am Standplatz. Trotz Janinas angeblich momentan schlechterer physischen Form, kam sie kurz darauf ebenfalls am Stand an. Erleichterung - wir hatten es beide tatsächlich ohne Sturz bis hierhin geschafft. Einmal mehr war unser Best-Case-Szenario entgegen allen Erwartungen eingetreten. Am nächsten Tag würden wir „nur“ noch die letzten vier Seillängen klettern müssen, darunter allerdings die beiden Schlüsselseillängen.

Früh am nächsten Morgen war ich im Flow. Trotz des Kaltstarts fühlte ich, dass es klappen würde. Wir waren im Dunkeln aufgestanden, beide mit Halsschmerzen, und hatten langsam und schweigend unser Frühstück gegessen. Als die ersten Sonnenstrahlen auf die Wand trafen, war ich schon ein paar Züge weit in der ersten Schlüsselseillänge. Der Nebel floss langsam unter mir durch die Schlucht, die Schattenlinie kroch stetig weiter nach unten und in diesem Moment war ich einfach nur dankbar, hier zu sein und dieses Erlebnis zwischen uns teilen zu können.

Als Janina die Schlüsselstelle direkt nach mir durchsteigt, strahle ich. Es überrascht mich immer wieder, wie intensiv es sich anfühlen kann, eine Mehrseillängenroute gemeinsam mit einer guten Freundin zu projektieren. Ihr Erfolg ist dein Erfolg, und wenn du es schaffst, fühlt es sich umso grösser an, weil du genau weißt, dass es ihr genauso viel bedeutet.  Es ist so selten, dass alles zusammenkommt für einen gemeinsamen Durchstieg: ein Projekt, das für beide gleichermaßen herausfordernd ist, das richtige Wetter am richtigen Tag, der nötige Fokus, die Fitness, ein bisschen Glück.

Nachdem wir am Vortag nur knapp einem fatalen Hitzschlag in der Mittagssonne entgangen waren, indem wir uns ein paar Stunden unter einem Busch in der Wand versteckt hatten, beschlossen wir jetzt, die Sonne auf unserem immer noch aufgebauten Portaledge auszusitzen. Ich kann mir vorstellen, wie unglaublich es sein muss, diese Route an einem Tag zu klettern, wenn alles reibungslos funktionieren muss, um keine Energie zu verschwenden. Auf der anderen Seite war es ein ganz besonderer Luxus, nun nach der ersten Seillänge am Morgen in der Sonne zu sitzen, Suppe und Tee zum Brunch zu kochen, zu dösen und endlich Zeit zum Zeichnen zu haben.

Sobald die Wand am frühen Nachmittag mehr Schatten warf, ging es weiter. Ich war nervös, mir war bewusst, wie viel Potential für kleine Abrutscher, für ausgehende Haut und schwindende Kraft noch vor uns lag. Aber all diese Möglichkeiten sollten nicht eintreten. Nicht an diesem Tag. Wir klettern beide die letzte Schlüsselseillänge, die von ihrer Glattheit und den Farben vielleicht beeindruckendste Länge der ganzen Tour, genau der einstudierten Sequenz folgend, und als das Licht weniger wird, stehen wir beide am Ausstieg und grinsen.

Diese Reise war so unbeschwert, besonders und voller Spaß. Während ich mir früher vielleicht meine Kletterpartner*innen ausgesucht hätte, um eine bestimmte Route zu klettern, weiß ich inzwischen, was für einen Unterschied es macht, diese Momente mit einer guten Freundin zu teilen, die immer für einen Witz oder eine Umarmung zu haben ist.

Es wird sicher auch wieder andere Urlaube mit dem Auto geben. Aber während wir so die Schlucht hinunterrollen, zurück in Richtung der Lavendelfelder, fällt es mir schwer, mir vorzustellen, warum. Wenn vermeintlich alle an ferne Orte reisen, von denen du schon immer geträumt hast, hast du vielleicht manchmal das Gefühl, etwas zu verpassen, indem du Kletterziele wählst, die sich mit einer nachhaltigeren Welt eher vereinbaren lassen. Aber nicht jetzt, nicht in diesem Moment, in dem ich vor Begeisterung über unsere Reise, die sich dem Ende zuneigt, überquelle. Gerade kann ich mir Nichts vorstellen, was ich lieber erlebt hätte. Ich bin verblüfft, wie sehr es sich wie eine echte Reise angefühlt hat, wie etwas völlig Anderes und Aufregendes. Durch die Entscheidung, das Auto stehen zu lassen und diese zwei Tage auf den Rädern zu verbringen, erhielt ein relativ nahe gelegenes Ziel, das ich bereits mehrfach besucht hatte, den Reiz des Neuen.

Vielleicht ist eines der Dinge, die wir an all diesen vielversprechenden, entlegenen Orten suchen, auch etwas Ungewissheit. Es gibt keine Garantie, dass alles so wird, wie du es dir vorgestellt hast, wenn du noch nie dort warst. Wenn du die Sprache nicht verstehst und den kulturellen Kontext nicht ganz begreifst, kann das gewohnte Gefühl von Sicherheit schnell schwinden. Selbst abgesehen vom Klettern ist das Ergebnis offen – die Geschichte noch nicht geschrieben.

Während ich langsam weitertrete, denke ich darüber nach, wie sehr die zwei Tage auf dem Fahrrad dieser Reise eine neue Dimension gegeben haben und das gesamte Erlebnis bereichert haben. Durch das Zulassen eines Hauchs von Ungewissheit, nicht genau zu wissen, wie reibungslos alles laufen würde, wird die Reise selbst Teil des Erlebnisses und macht das Ziel so viel wertvoller. Als Kletter*innen sollten wir eigentlich wissen, dass die unvergesslichsten Erlebnisse niemals auf dem Weg des geringsten Widerstands zu finden sind.

In einer Welt, in der alles jederzeit verfügbar scheint, kann die Einschränkung in der Wahl unserer Verkehrsmittel genau das Gegenteil bewirken: Sie macht unsere Welt plötzlich wieder größer. Langsamer zu reisen hebt hervor, was ich auch beim Klettern immer noch versuche zu erreichen: Die ehrliche Wertschätzung des Prozesses über das eigentliche Ziel zustellen, während einem das Ziel immer noch wichtig ist.

Durch die Hügel gleitend, eingehüllt in ein weiches Licht aus Lila und Orange, murmle ich vor mich hin: Vielleicht ist es einfacher, den Prozess zu geniessen, wenn man die Eicheln fallen hören kann.

El Topo, 8a, 14 SL, 330m
Rotpunktbegehung von Janina & Lulu am 28. & 29.10.2024 mit Portaledge über zwei Tage, Blockführung ausser in den Schlüssellängen, die jeweils von beiden vorgestiegen wurden.