Dementsprechend überrascht war ich, als ich, nachdem wir einmal gestartet waren, mit jedem Tritt zunehmend enthusiastisch wurde. Ich freute mich so, dass wir ohne zu verkopfte Planung entschieden hatten, es einfach auszuprobieren. Meine Euphorie hielt selbst noch an, als wir während der ersten fünf Stunden völlig vom strömenden Regen durchnässt worden waren, regelmäßig Abzweigungen verpasst hatten und der Magen knurrte, weil wir am Vortag kein Frühstück organisiert hatten; wir waren fataler Weise davon ausgegangen, dass wir auf dem Land in Frankreich sicher alle 30 Minuten auf eine Bäckerei stoßen würden.
In meinem Kopf hatte ich mir die Lavendelfelder, die sich vor uns bis zum Horizont ausdehnten, zwar in leuchtendem Lila und in voller Blüte ausgemalt– nicht grau im Herbstregen. Aber trotz unseres schleichenden Tempos änderte sich die Umgebung um uns herum ständig: Ein Vogel, der in einer Dornenhecke landet, eine Eichel, die vor meinen Reifen fällt und schon im nächsten Moment unter ihm zerknackt, eine plötzliche Schwade von Feuchtigkeit, als wir eine Senke durchqueren. Felder, die sich in die Hügel einschmiegen, zerfallende Steinhütten umgeben von feuchtem Laubwald wichen endlosen Lavendelfeldern, die uns in Richtung Berge führten. Durch links und rechts steil aufragende Felswände am Schluchteingang hindurch folgten wir den kurvigen Serpentinen Kehre für Kehre weiter nach oben. Ich war diese Strecke schon oft mit dem Auto gefahren, doch nie zuvor war ich so beeindruckt und voller Vorfreude gewesen.
Vor Ort gaben uns die Fahrräder ein Gefühl unbeschwerter Unabhängigkeit. Alles war vom Campingplatz aus mühelos mit dem Rad erreichbar. Wenn wir abends, allein im Licht unserer Stirnlampen in Dunkelheit und Stille zurück zum Zelt rollten fühlte es sich wie der perfekte Abschluss des Tages an.
Während wir an der Route arbeiteten, kamen uns ernsthafte Zweifel, ob unser Plan, sie frei zu klettern, vielleicht doch etwas zu optimistisch gewesen war. Alle, die uns in den unteren Seillängen in der prallen Sonne beobachtet hatten, mussten uns für verrückt gehalten haben, nur ein paar Tage später einen Durchstiegsversuch zu planen. Wir hingen mehr in unseren Gurten, als tatsächlich zu klettern: zwei Züge, dann wieder im Seil– unsere Haut tat einfach zu weh und das Stehen auf diesen winzigen Tritten war lächerlich unerträglich. Dennoch versuchten wir unser Bestes, um die entscheidenden Crux-Sequenzen zumindest theoretisch zu entschlüsseln. Für den Rest mussten wir darauf vertrauen, dass es, wenn es an der Zeit für unseren Rotpunkt-Versuch wäre irgendwie auch intuitiv gehen würde.
Zu unserem großen Frust verbrachten wir wegen schmerzenden Händen und Füssen, sowie durchwachsenem Wetter mehr Zeit mit Ruhetagen als mit Klettern. Die Sorge, dass wir kein Wetterfenster mehr bekommen würden, bevor unsere Zeit in der Schlucht zu Ende wäre, wuchs. Aber wir hatten Glück. An unseren letzten beiden Tagen hörte es auf zu regnen und der strahlend blaue Himmel kehrte zurück. Wir hatten vor dem Trip bereits im Kopf gehabt, die Route an zwei Tagen mit Übernachtung auf dem Portaledge zu klettern. In der Mittagshitze stellte sich dies nun tatsächlich als einzig für uns machbare Möglichkeit heraus, während wir uns über Mittag für einige Stunden vor der Sonne verstecken mussten, bis die Wand langsam in den Schatten kam.
Die erste Hälfte verlief viel reibungsloser als irgendwer erwartet hätte. Bis zur 7. Seillänge kletterten wir ohne größere Schwierigkeiten alles frei. Offenbar machte es doch einen Unterschied, ob man die scharfen Tropflöchern wirklich auch festhalten wollte. Doch dann, eine Seillänge unterhalb des Stands, an dem wir beim Abseilen unser Schlafzeug gelassen hatten, geriet unser Flow ins Stocken: Der überhängende Riss über uns sah an mehreren Stellen nass aus, vor allem um die Schlüsselstelle herum. Eigentlich hatte ich nur nachsehen wollen, ob es in diesem Zustand noch irgendwie kletterbar wäre, in der Hoffnung, dass es bis zum nächsten Morgen schon etwas weiter abgetrocknet sein könnte. Doch plötzlich fand ich mich mitten in der Crux wieder, am Kämpfen und mit dem Gefühl bei jedem Zug zu fallen und trotzdem irgendwie immer noch an der Wand, so leer wie schon lange nicht mehr.
Dann war ich am Standplatz. Trotz Janinas angeblich momentan schlechterer physischen Form, kam sie kurz darauf ebenfalls am Stand an. Erleichterung - wir hatten es beide tatsächlich ohne Sturz bis hierhin geschafft. Einmal mehr war unser Best-Case-Szenario entgegen allen Erwartungen eingetreten. Am nächsten Tag würden wir „nur“ noch die letzten vier Seillängen klettern müssen, darunter allerdings die beiden Schlüsselseillängen.
Früh am nächsten Morgen war ich im Flow. Trotz des Kaltstarts fühlte ich, dass es klappen würde. Wir waren im Dunkeln aufgestanden, beide mit Halsschmerzen, und hatten langsam und schweigend unser Frühstück gegessen. Als die ersten Sonnenstrahlen auf die Wand trafen, war ich schon ein paar Züge weit in der ersten Schlüsselseillänge. Der Nebel floss langsam unter mir durch die Schlucht, die Schattenlinie kroch stetig weiter nach unten und in diesem Moment war ich einfach nur dankbar, hier zu sein und dieses Erlebnis zwischen uns teilen zu können.
Als Janina die Schlüsselstelle direkt nach mir durchsteigt, strahle ich. Es überrascht mich immer wieder, wie intensiv es sich anfühlen kann, eine Mehrseillängenroute gemeinsam mit einer guten Freundin zu projektieren. Ihr Erfolg ist dein Erfolg, und wenn du es schaffst, fühlt es sich umso grösser an, weil du genau weißt, dass es ihr genauso viel bedeutet. Es ist so selten, dass alles zusammenkommt für einen gemeinsamen Durchstieg: ein Projekt, das für beide gleichermaßen herausfordernd ist, das richtige Wetter am richtigen Tag, der nötige Fokus, die Fitness, ein bisschen Glück.
Nachdem wir am Vortag nur knapp einem fatalen Hitzschlag in der Mittagssonne entgangen waren, indem wir uns ein paar Stunden unter einem Busch in der Wand versteckt hatten, beschlossen wir jetzt, die Sonne auf unserem immer noch aufgebauten Portaledge auszusitzen. Ich kann mir vorstellen, wie unglaublich es sein muss, diese Route an einem Tag zu klettern, wenn alles reibungslos funktionieren muss, um keine Energie zu verschwenden. Auf der anderen Seite war es ein ganz besonderer Luxus, nun nach der ersten Seillänge am Morgen in der Sonne zu sitzen, Suppe und Tee zum Brunch zu kochen, zu dösen und endlich Zeit zum Zeichnen zu haben.
Sobald die Wand am frühen Nachmittag mehr Schatten warf, ging es weiter. Ich war nervös, mir war bewusst, wie viel Potential für kleine Abrutscher, für ausgehende Haut und schwindende Kraft noch vor uns lag. Aber all diese Möglichkeiten sollten nicht eintreten. Nicht an diesem Tag. Wir klettern beide die letzte Schlüsselseillänge, die von ihrer Glattheit und den Farben vielleicht beeindruckendste Länge der ganzen Tour, genau der einstudierten Sequenz folgend, und als das Licht weniger wird, stehen wir beide am Ausstieg und grinsen.